Erik
Göngrichs Exkursionen: Für eine Fotografie der Neugier
Repräsentation, Flaneurismus und das Innehalten.
Die Sonne scheint müde und zaghaft und wir packen
unser Picknick aus. Die Plastikmatten liegen ausgebreitet, farbige Flecken
in der graugrünen Brache, Schnitze von Wassermelonen bilden einen schönen
Kontrast zum umgebenden Kolorit von hartnäckigen Pflanzenbüscheln, wildwuchernden
Sträuchern und dem Sand, der in Berlin unweigerlich unterhalb und zwischen
jeder Bebauung zum Vorschein kommt. Auf zwei Leinwände werden Fotografien
geworfen, Bilder aus Istanbul. Wir befinden uns in einer Installation
von Erik Göngrich, realisiert an einem Tag in Berlin, auf einer Freifläche
in der Nähe des Nordbahnhofs. Eine Veranstaltung zwischen lapidarem Vergnügen
und Kontextualisierung, zwischen Müßiggang und Kontemplation, zwischen
Gespräch und Betrachtung.
Zwischen diesen Polen oszilliert auch die künstlerische Praxis Erik Göngrichs:ein
Flaneur auf Reisen. Mit Fotoapparat und Tonaufnahmegerät bereist er Städte
in dem Versuch, im urbanen Raum Orte und Situationen zu finden, die ein
gewisses Maß an kontextueller Offenheit zeigen.
So beschäftigt sich ein größerer Werkkomplex mit den Metropolen Südamerikas,
ein anderer mit Istanbul, wieder andere mit Paris oder dem ÓHeimatortÓ
Berlin.
Zumeist verbringt er einige Monate, ein halbes Jahr vielleicht, in diesen
Städten und meidet bei den täglichen Ausflügen zu Fuß die historischen
und touristischen Zentren. Göngrich läuft vielmehr, den historischen Flaneuren
gleich, durch die Randbezirke, erkundet die normalen Wohnviertel oder
Orte des Übergangs und der Migration wie z. B. das 13. Arrondissement
in Paris. Zu den dort entstehenden Fotografien, die, in die Tausende gehend,
Regale voller Diamagazine füllen, gesellen sich Gespräche und Interviews
mit den Bewohnern der Städte.
Der Themenraum, um den sich diese beiden Vorgehensweisen (und dazu kommen
noch überlebensgroße Handzeichnungen, Projektionen, Führungen etc.) gruppieren,
besteht im Wesentlichen aus der Befragung des urbanen Raumes als Ort von
vielfältigen Besetzungen und, wesentlicher, Fehlbesetzungen, Zwischenräumen,
temporären Nutzungen. Es geht um den städtischen Raum als Organismus,
der nicht so sehr von planerischen Entscheidungen regiert wird, sondern
von Zufall, von der Belebung und (Um)-Nutzung des städtischen Raums durch
seine Bewohner.
Das Flanieren Erik Göngrichs zielt auf ein Finden hin, er interessiert
sich für die Leerstellen im Stadtkörper, für Orte, an denen Funktionen
des täglichen Ablaufs in zufällige Objekte transformiert werden.
Im Gegensatz zu seinen historischen Vorgängern ist er an einer Wörtlichnahme
dieser oftmals temporären Gebilde interessiert und auch an ihrer Benutzbarkeit.
Die Leerstelle, die ÓFehlbesetzungÓ, wird zum eigentlichen Kern einer
neuen Topografie der Stadt und des urbanen Raums.
Von hier aus sind die fotografierten Situationen potenzielle Spielstätten
für Handlungen, die die modernistische Funktionalisierung des öffentlichen
Raums unterlaufen können.
Boris Groys beschreibt in seinem Aufsatz: ÓDie Aura des ProfanenÓ ein
wesentliches Moment des Flaneurs: ÓDer Flaneur fordert von den Dingen
nicht, dass sie zu ihm kommen, sondern er selbst begibt sich zu den Dingen.
In diesem Sinne zertrümmert der Flaneur die Aura der Dinge nicht, sondern
er beachtet sie oder vielmehr lässt er sie erst entstehen.Ó
Während es im neunzehnten Jahrhundert bei den historischen Flaneuren wie
Baudelaire um die radikale Unzweckmäßigkeit, um eine maßlose Sinnlosigkeit
des Blicks, um einen verstreuten Blick und eine sich immer weiter zerstreuende
Welt ging (nicht zuletzt einhergehend mit einer Apparatisierung des Blicks
durch die neuen Bildmedien wie die Fotografie und der Rettung der spezifischen
Aura des Blicks, die sich darüber ergibt), so geht es bei der Praxis Göngrichs
nun um die Erkundung einer, wenn man so will, ÓAura der FehlbesetzungÓ
von Orten. Die Lücken im Stadtraum, die eigenartigen Objekte, die Zwischennutzungen
und Handlungsräume, die Göngrich fotografiert, stehen in einem bewussten
Gegensatz zu dem, was der prototypische fotografische Flaneur Eugene Atget
herausgebildet hat: Bei Atget erscheint Paris in einen kristallinen Schlaf
verfallen, alles ist umhüllt von Schweigen, Stillstand und Vergessenheit.
Atgets Projekt, das Paris an der Schwelle zur Moderne zu dokumentieren,
das Skelett der fetischisierten Ware zu zeigen (seine Schaufenster), zielt
auf ein Herauslocken der auratischen Kraft des Brüchigen, des Leblosen,
des Stillgestellten. Selten sah man so stille Bilder.
Genau entgegengesetzt bewegt sich der zeitgenössische Flaneur Erik Göngrich
durch die Straßen von Paris, Istanbul, Buenos Aires. Auch ihn interessieren
die Situationen am Rande, die Nischen, die Durchgänge, die Displays und
Auslagen. Aber Göngrichs Anliegen ist es, diesen Motiven eine Benutzbarkeit
abzutrotzen, sein Blick richtet sich auf die Leerstellen im Stadtkörper,
die Möglichkeiten einer Benutzbarkeit, einer ÓanderenÓ Nutzung des öffentlichen
Raums nahelegen.
Viel spielerischer als sein großer Vorläufer zeigt er improvisiertes Mobiliar,
Lücken im Straßengefüge oder willkürliche, ungeplante Zusammenklumpungen
von Wohnsituationen. Diese Städte werden benutzt und zwar, das wird deutlich,
ohne Regel und gegen eine korporative Stadtplanung.
In Kombination mit den Interviews wird das Ziel des Unterfangens deutlich:
einen nahezu unendlich scheinenden Katalog der Benutzbarmachung des Stadtraums
zu schaffen, ein widerständiges Potenzial der Möglichkeiten zu erstellen,
die sich gegen einen immer rigider durchgeplanten Stadtraum stellen (oder,
wie in Istanbul oder Südamerika, quasi ÓflüssigeÓ Strukturformen des Stadtgefüges
zu dokumentieren).
Wie Levi-StrausÔ ÓBricoleurÓ, der Bastler, der, dem wilden Denken verhaftet,
mit dem ihm zur Verfügung stehenden Objekten neue Zusammenhänge zusammenklebt,
erweitern die imaginären Bewohner dieses urbanen Raums den korporativen
Stadtraum in ein Möglichkeitsfeld.
Und, diesem Bricoleur sich annähernd, entwirft auch Göngrich für jede
Ausstellungssituation, jede Präsentation jeweilig neue installative Entwürfe,
die den spezifischen Ort berücksichtigen. Daher teilt sich das Vorgehen
auf in temporäre, situativ ausgerichtete Veranstaltungen, wie die ÓPicnic-CityÔsÓ:
Picknicks im Stadtraum, z. B. in Berlin oder Istanbul, Diavorträge wie
in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin oder Mischformen wie
die zuletzt im Münchner Kunstverein gezeigte Diainstallation mit Vortragsperformance
ÓIhr ReiseplanÓ.
Die Münchner Installation, in der neben einer Auswahl von Dias aus Istanbul
auch Bilder und Interviews aus Mexico City, Buenos Aires und Berlin auftauchten,
koppelte eine Art von persönlicher Topografie der erwähnten Orte mit 10
ÓVorträgenÓ an drei aufeinanderfolgenden Tagen, bei denen der Künstler
sehr persönlich über seine Erfahrungen und Erlebnisse vor Ort berichtete.
Wie auch in den Büchern (ÓInterface Rue du ChevaleretÓ, Paris,1999, ÓSitzen
im AuslandÓ, Mexico City/Bogota/Buenos Aires, 2000, ÓPicnick-CityÓ, Istanbul,
2001) spielen die in den Diaprojektionen auftauchenden Auszüge aus Gesprächen
mit Bewohnern eine wichtige Rolle. Analog zu dem Moment des Katalogisierens,
das wie besprochen schon bei den Fotografien auftaucht, bestehen diese
Gespräche zumeist aus einer Reihe von mehr oder weniger simplen Fragen:
ÓIn welcher Farbe würden Sie gerne ihre Stadt anstreichen?Ó ist eine davon,
die erst einmal in ihrer Simplizität erstaunen. Doch in ihrer suggerierten
Handlungsanweisung wird eine ähnliche Leerstelle markiert, wie sie auch
in den Diaprojektionen auftaucht: Gibt es Möglichkeiten, resp. wie wären
die Möglichkeiten beschaffen für Einzelne und für soziale Gruppen, in
den korporativen Stadtkörper gestaltend einzugreifen? Die Frage wird zum
Teil schon durch die begleitenden Fotografien beantwortet. Zum Teil bleibt
die Antwort in der Schwebe, und bildet mit der installativen und situativen
Präsentation die Problematisierung des Gefüges ÓUrbaner RaumÓ, die Göngrich
interessiert. Und genau an dieser Achse der Auseinandersetzung, in der
sich Bild und Text situativ treffen, wird auch deutlich, dass das Unterfangen
vor allem darauf abzielt, Ereignisse und Situationen zu schaffen, um aus
der Falle des Dokumentarischen zu entkommen. Erik Göngrich ist auch daran
interessiert, die Problematik der Präsentation von dokumentarischem Material
zu umgehen, der Versteinerung, Musealisierung des Dokumentarischen eine
situative Operation entgegenzustellen, in der sein Material (die Fotografien
und Gespräche) andere Beziehungen zum Betrachter eingehen kann.
Die radikale Polemik der Situationisten im Ohr sind die gefundenen Umgestaltungen,
die Momente der Wörtlichnahme und die Neugier an der Fehlbesetzung, an
der Improvisation, an den zufälligen Erzeugnissen auch Anlass für einen
Versuch der Konstruktion von Situationen. Das Picknick im öffentlichen
Raum beherbergt eine flüchtige Gemeinschaft, vereint zur Betrachtung der
Möglichkeiten einer Neubesetzung des urbanen Raums.
Im Angesicht der janusköpfigen Geschichte des Picknicks, diesem Ideal
einer müßiggängerischen Freizeitgestaltung, erscheinen uns die dezidiert
urbanen Szenerien und Objekte auf den projizierten Fotografien eigenartig
fremd. Hat nicht das Picknick seinen Ursprung in der bäuerlichen Arbeitspause,
in der Rast der Nomaden und, in einer interessanten Verklärung dieser
Pausenformen, als Ritual der Aristokratie schon vor der Romantik, die
Geschwisterlichkeit von Kultur und Natur beschwörend? Gerade hier, in
der Tradition des Picknicks als höfischer Kulturform, wird das beschwörende
Moment deutlich: Wir lagern uns ein in die Natur, um Teil einer Szenerie
zu werden, Teil eines Bildes einer friedlichen Koexistenz der Landschaft
mit dem Menschen. So ist ein Picknick immer noch eine beredte Sache: eine
flüchtige Gemeinschaft, zusammengewürfelt in einem romantischen Bühnenbild,
birgt es das Versprechen einer antiurbanen Nische, einer nomadischen Verstreuung.
Partikularisierte Individuen finden sich zu einem nomadischen Ritual zusammen,
nutzen temporäre Lücken, besetzen einen Ort für ein Vergnügen, das flüchtig,
romantisch und gleichzeitig multipel kontextuell ist. In diesem Fall sitzen
wir immer noch in Berlin, es ist ein trüber Sommertag, die Melonen sind
rot, kontrastieren die Umgebung, und wir betrachten 162 Fotografien aus
Istanbul. So kommt der Flaneur im Picknick zum Innehalten, während der
Diaprojektor übernimmt.
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